Wer kennt nicht den «Hirtenpsalm Nr. 23», einen der bekanntesten und beliebtesten Psalmen im ganzen Psalter. Im Bild vom Hirten und seinem Schaf erzählt er von Versorgung, Führung und Schutz, die der Psalmbeter durch Gott erfährt. Das Besondere ist dabei die Perspektive des Einzelnen – gerade nicht die der ganzen Herde bzw. des ganzen Volks. Und besonders ausgeprägt ist auch das Schwergewicht auf dem Schutz – da «kippt» der ganze Psalm nämlich von der dritten Person Singular in die zweite Person – die vertrauliche Gebetsanrede von Du zu Du. Ein Vers, der quasi «die Idylle stört» und oft übersehen wird, ist Vers 5a:
«Du deckst mir den Tisch im Angesicht meiner Feinde…». Er wird heute, in der Situation der Beherbergung von Flüchtlingen aus der Ukraine in Westeuropa erst richtig verständlich und somit hochaktuell: Gottes Gastfreundschaft bietet dem Flüchtling auch Schutz und Asyl gegenüber seinen Verfolgern. In biblischer Zeit konnte das ein Asyl sein vor Verfolgung wegen einer unvorsätzlichen Tötung, wegen Überschuldung oder wegen drohendem Verkauf in die Sklaverei. Heute ist der Asylgrund die Bedrohung an Leib und Leben durch den widersinnigen Krieg in der Ukraine, der sowohl Menschenrechte wie auch internationales Völkerrecht missachtet. Der Psalm vermittelt uns das Bild eines Gottes, der Asyl gewährt und auch eines Volks, in dem Asylstätten offenstehen. Wo wir heute, sei’s in humanitärer oder auch in explizit christlicher Gesinnung schützendes Asyl gewähren, da wird etwas von Gottes Hirtenliebe konkret erfahrbar – die Hirtenliebe, die auch unser Herr als «guter Hirte» selber gelebt hat, indem er die «verlorenen Schafe des Hauses Israel» suchte (Mt 15,24 / 10,6). Mit ihnen hat er sich sogar selber identifiziert, als er sprach: «Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen. (…) Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.»
(Mt 25,35.40)
Text: Hanspeter Aschmann | Foto: Adobe Stock